Nun stell dich mal nicht so an

Wie oft in den letzten Jahren habe ich diesen Satz gehört? Ich weiß es nicht mehr, es war einfach zu oft.

„Stell Dich nicht so an, du hast nur ein Kind, andere haben viel mehr Stress.“
„Stell Dich nicht so an, die Arbeit, die Du machst, ist nicht so anstrengend.“
„Stell Dich nicht so an, wenn du die ganze Zeit traurig und depressiv bist, geh mal an die frische Luft.“

Anfänglich haben mich diese Worte verletzt, ich habe gegrübelt und hin und her überlegt – stelle ich mich wirklich an?

Als ich vor mehreren Jahren eine Therapie begann, hatte ich nicht das Gefühl, dass ich mich „anstelle“. Das war für mich der einzige Ausweg aus einer – für mich damals – ausweglosen Situation.

Ich hatte (und habe) mit depressiven Phasen zu kämpfen und an den Tagen dieser Phasen ist es wirklich uncool in meinem Körper gefangen zu sein. Ich weiß mittlerweile, wann und wie sie weggehen und jedes mal ist es schmerzhaft, denn der einzige Weg rauszukommen ist da durchzukommen.

Diese Tage sind dunkler, bedrohlicher, das Essen schmeckt fad, die Zeit will nicht umgehen, bis man endlich ins Bett kann. Diese Tage sind anstrengend, kräftezehrend und wirklich erschöpfend. Manchmal sind einfachste Sachen nicht möglich für mich und wenn, nur unter wirklich extremem Kraftaufwand.

Ich höre schon wieder die Leute sagen „Ja, ja, die stellt sich auch ein bisschen an.“

Dazu sage ich folgendes: Ich freue mich so wahnsinnig für Euch, dass ihr diese Gedanken und Gefühle nicht kennt, dass es ein unendlich schöpfbares Repertoire an Kraft in Euch gibt – bei mir ist es anders.

Ich habe auch ein Repertoire. Aber an solchen Tagen brauche ich meine komplette Kraft um meine kleine Familie gut durch den Tag zu bringen ohne dass mein Sohn mitbekommt, dass ich heute nicht so gerne koche, dass die Wäsche tatsächlich schon seit gestern in der Maschine liegt und ich dringend mal staubsaugen müsste.

Durch meine Therapie weiß ich, dass das ein wiederkehrender Zustand ist und tatsächlich nicht die Regel. Aber jedes mal, wenn die dunklen Wolken aufziehen, würde ich am liebsten vor dem Sturm fliehen.

Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Vor sich selber zu fliehen, das geht leider nicht.

Also ertrage ich diese Panikattacken und diese Melancholie und stehe morgens auf, mach das Bett, geh zur Arbeit und abends wieder nach Hause. An diesen Tagen habe ich wenig Lust auf soziale Kontakte, das einzige was ich dann wirklich brauche ist eine aufgeräumte Wohnung und gutes Essen. An diesen Tagen erkenne ich mich und mein Leben oft nicht, ich fühle mich dann wie ein Zuschauer, ein ziemlich ätzender, der das Leben, was da grade geführt wird, ziemlich verurteilt.

Am Anfang habe ich um Hilfe gebeten, bin zu Freunden gegangen um mich selber nicht ertragen zu müssen, denn die kleinste Ungereimtheit in meinem Tag bringt das ganze instabile Gerüst so sehr zum Wanken, dass ich in absolute Panik verfalle und mal wieder an allem zweifle. Aber es hilft nicht. Am Ende kann mir bei diesem Kampf niemand helfen, nur ich selber.

Was mir aber wirklich am wenigsten hilft, sind vermeintlich gut gemeinte Ratschläge.
Nein, schönes Wetter hilft nicht (und mal btw.: Ich habe einen Hund, ich bin jeden Tag draussen, manchmal hilft mir kein Wetter), nein, es hilft auch nicht, wenn Du mir sagst, dass ich mich nicht so anstellen soll. Es hilft mir nicht, wenn Du sagst, ich habe doch alles und soll nicht so undankbar sein und am allerwenigsten hilft es mir, wenn Du mir sagst, dass Du es noch schwerer hast. Denn das hätte höchstwahrscheinlich zur Folge, dass ich darüber nachdenke und mich auch noch schlecht fühle, weil ein Teil von mir denken wird, dass Du recht hast und ich einfach wirklich nur undankbar bin.

Es gibt Menschen, die Arbeiten 60 Stunden die Woche und sind damit nicht überfordert, es gibt Menschen, die haben 6 Kinder und finden das ganz großartig und es gibt Menschen, die sind superreich, haben alles und koksen sich zu Tode, weil sie halt solche Probleme haben.
(Ob die sich auch mal lieber ein bisschen weniger angestellt hätten? Oder besser mal ne Runde an die frische Luft gegangen wären?)

Nach jeder dieser durchlebter Phasen bin ich etwas stärker, etwas härter, aber ich wünschte, ich müsste es nicht sein. Das was ich mir am allermeisten wünsche, ist ein ganz normales Leben und einen unbeschwerten Blick in die Zukunft. Ich vermisse manchmal den Menschen, der ich einmal war, aber ich gebe nicht auf, dass er wiederkommen wird. Denn ich weiß immer, es wird der Tag kommen, an dem es vorerst vorbei ist und dass die Sonne endlich wieder aufgeht.

Sonnenaufgang in Libur, Kirschzweig, am alten busch

Und trotz all den Wolken am Himmel ist heute dieser Tag. Heute ist der Tag, an dem ich voller Vorfreude den Rest meines Tages plane, auch wenn ich weiß, dass ich noch saugen muss. Und mein Bett beziehen. Und kochen. Und dass zu Hause noch drei Maschinen Wäsche auf mich warten.

Aber ich weiß auch, dass da zwei Menschen sind, die ich ganz furchtbar doll liebe; der tollste Sohn der Welt ist und mein Freund, der den ganzen Mist nun nicht das erste mal mitgemacht hat und mich noch nie als „Verrückte“ abgestempelt hat, auch wenn ich mich selbst so gesehen habe.

xoxo, nora.

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